Scientific Article

Saugbedürfnis & Saugtraining im Säuglingsalter

Carina Kittelberger


Die Verwendung des Schnullers ist oft ein kontroverses Thema und wird innerhalb von Fachpersonen, aber auch zwischen Fachpersonen und Eltern regelmäßig diskutiert. Inwieweit der Schnuller die generelle Form des Saugens eines Säuglings beeinflusst und welche Auswirkungen er auf den Mundraum hat, darauf wird in diesem Artikel aus logopädischer Sicht eingegangen.

Der nahrungsunabhängige Saugreflex

Babys werden mit einem nahrungsunabhängigen Saugbedürfnis geboren. Dieser Reflex des Saugens wird ausgelöst, sobald die Brust, ein Finger oder ein Schnuller den Mund berührt. Um Nahrung aufzunehmen, muss der Säugling Atmung, Saugen und Schlucken koordinieren. Ein Zusammenspiel von Hirnnerven, Hirnstamm und Kortex sichern somit das Überleben des Neugeborenen. Das sogenannte „non nutritive“ Saugen, dient zur Beruhigung und Regulierung des Säuglings und ist der Vorläufer des nährenden Saugens. Das non-nutritive Saugen verbessert die Verdauung, die Verhaltensorganisation, das Schmerzmanagement und dient als Prävention vor Aspiration (1).

Die Verwendung von Schnullern

Saugt das Baby, um Nahrung aufzunehmen, spricht man von “nutritivem Saugen”. Das Saugen trainiert die Mundmuskulatur, regt das Wachstum des Unterkiefers an und sorgt für eine harmonische Entwicklung von Ober- und Unterkiefer. Durch dieses Zusammenspiel wird das Baby auf das Beißen, Kauen, Schlucken und Sprechen vorbereitet (2). Säuglinge mit geringem Geburtsgewicht oder Frühgeborene haben oft nicht die erforderliche Muskelkraft, die für das Saugen notwendig wäre. In solchen Situationen kann ein (Frühchen-)Schnuller therapeutisch eingesetzt werden, um Babys beim Erlernen der Saug-Schluck-Atmungs- Koordination zu unterstützen. Neben der oralen Stimulation unterstützt er, um Kinder mit geringem Geburtsgewicht oder Frühgeborene von der Sonde hin zur oralen Ernährung zu führen. Frühgeborene, denen ein Schnuller angeboten wurde, konnten schneller von der Sonde an das orale Füttern herangeführt werden, wurden signifikant häufiger gestillt und konnten auch schneller von der Intensivstation entlassen werden (3). Studien zeigen zudem ein reduziertes Risiko für den Plötzlichen Kindstod bei der Verwendung von Schnullern, insbesondere wenn diese bei jedem Schlaf eingesetzt werden (4,5). Bei gestillten Säuglingen sollte der Schnuller erst eingeführt werden, wenn das Stillen gut etabliert ist (4, 5).

Wenn der Schnullergebrauch über das natürliche Saugbedürfnis hinaus verwendet wird, kann sich dies auf Kiefer, Zähne, Gesichtsmuskulatur und Sprache auswirken. Sollte Flaschenernährung, Daumenlutschen oder Fingernägel kauen über das erste Lebensjahr hinaus gehen, wird dadurch auch das Muskelgleichgewicht im Mundraum beeinflusst.

Die logopädische Perspektive

Physiologisch betrachtet liegt die Zunge in Ruheposition oben am Gaumen. Der Daumen oder ein Schnuller, insbesondere mit einem großen, unflexiblen Saugteil erschwert der Zunge, diese Ruheposition im Mund einzunehmen. Durch die falsche Position der Zunge, kann ein unphysiologisches Schluckmuster entstehen, wodurch die Zunge gegen die Zähne drückt, anstatt, wie physiologisch vorgesehen, gegen den Gaumen. Deshalb ist es, aus logopädischer Sicht, umso wichtiger auf die Auswahl des Schnullers zu achten: Je kleiner, dünner und flexibler der Sauger ist, desto weniger Raum wird im Mundraum eingefordert und desto besser können Zähne durchbrechen. Auch auf das Material sollte geachtet werden. Je weicher das Saugteil, desto leichter kann die Zunge den Sauger gegen den Gaumen drücken (6). Durch Veränderungen im Mundraum können verschiedene Störungen auftreten. Sehr häufig beobachtet wird, dass bestimmte Laute, statt am Gaumen, interdental, also zwischen den vorderen Zähnen gebildet werden, wodurch die Zähne noch weiter verschoben werden können (7). Durch häufiges, lang andauerndes Daumenlutschen, Schnuller- oder Flaschengebrauch können, aufgrund der Raumforderung, Zähne nicht richtig durchbrechen und es kann ein sogenannter “offener Biss” entstehen. Ein “offener Biss” muss in Abhängigkeit der Ausprägung kieferorthopädisch behandelt werden (8).

Wichtige Fragen

Aus logopädischer Sicht sollte bei der Verwendung des Schnullers Folgendes berücksichtigt werden: 
Indikation: Ist der Schnuller gerade jetzt das richtige Mittel der Wahl oder kann ich mein Baby auch anders beruhigen? Zum Beispiel durch Tragen oder sanftes Wiegen?
 Dosierung: Wie lange wird der Schnuller in einer bestimmten Situation gegeben? Braucht mein Kind beim Spielen in der Sandkiste einen Schnuller?
Therapiedauer: Wann sollte er abgewöhnt werden? Empfohlen wird den Schnuller vor dem 3. Lebensjahr abzugewöhnen.
 Nebenwirkungen: Mögliche unerwünschte Effekte sollten immer bedacht werden (9).

Carina Kittelberger

Logopädin

Carina Kittelberger erhielt 2009 ihr Diplom zur Logopädin an der Universitätsklinik in Wien. Ihr Weg führte sie von Österreich über Deutschland, bis nach Amerika. Ihre Arbeit, an der Hals-Nasen-Ohren-Ambulanz, der Neonatologie, der Neurologie und in der freien Praxis erweiterten ihr Wissen stetig. 2013 gründete sie die „Sprecherei“, die erste logopädische Kinderpraxis in Wien und arbeitete als Lehrbeauftragte an der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik. Sie lebt derzeit mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Kalifornien.

Quellen

1. Orovou, E. et al. Correlation between Pacifier Use in Preterm Neonates and Breastfeeding in Infancy: A Systematic Review. Children 9, 1585 (2022).

 2. illi S, Tacha M. Kieferorthopädie kompakt. Alles über Diagnose, Behandlungsmethoden und Kosten. Welche Spange ist für wen geeignet? [Orthodontics compact. Everything about diagnosis, treatment methods, and costs. Which brace is suitable for who?] Vienna: Pub. Verein für Konsumenteninformation [Association for Consumer Information]. Vienna 2022, page 53.

 3. Foster, J. P., Psaila, K. & Patterson, T. Non-nutritive sucking for increasing physiologic stability and nutrition in preterm infants. Cochrane Db Syst Rev 10, CD001071 (2016).

 4. Hauck, F. R., Omojokun, O. O. & Siadaty, M. S. Do Pacifiers Reduce the Risk of Sudden Infant Death Syndrome? A Meta-analysis. Pediatrics 116, e716–e723 (2005).

 5. Moon, R. Y., Carlin, R. F., Hand, I. & NEWBORN, T. T. F. O. S. I. D. S. A. T. C. O. F. A. Sleep-Related Infant Deaths: Updated 2022 Recommendations for Reducing Infant Deaths in the Sleep Environment. Pediatrics 150, (2022).

 6. Furtenbach, M. Prävention orofazialer Dysfunktionen im Spannungsfeld von Kieferorthopädie und Logopädie – Anregung zur vermehrten Zusammenarbeit. Informationen Aus Orthod Kieferorthopädie 45, 209–219 (2013).

 7. Fletcher, S. G., Casteel, R. L. & Bradley, D. P. Tongue-Thrust Swallow, Speech Articulation, and Age. J Speech Hear Disord 26, 201–208 (1961).

 8. Schmid, K. M., Kugler, R., Nalabothu, P., Bosch, C. & Verna, C. The effect of pacifier sucking on orofacial structures: a systematic literature review. Prog Orthod 19, 8 (2018).

 9. Furtenbach, M. Prävention orofazialer Dysfunktionen im Spannungsfeld von Kieferorthopädie und Logopädie – Anregung zur vermehrten Zusammenarbeit. Informationen Aus Orthod Kieferorthopädie 45, 209–219 (2013).