Scientific Article

Ein deutsches Präventionsprojekt verfolgt im Kampf gegen frühkindliche Karies (Early Childhood Caries ECC) einen sektorübergreifenden Ansatz

Dr. Yvonne Wagner


Die frühkindliche Karies, auch als Early Childhood Caries (ECC) bekannt, ist eine immer weiter verbreitete Form von Karies des Milchgebisses. Von ECC spricht man, wenn bei Kindern, die jünger als sechs Jahre alt sind, mindestens ein Milchzahn zerstört ist, fehlt oder mit einer Füllung versehen werden musste. Die Kinder leiden unter Zahnschmerzen, Problemen beim Essen sowie Sprechen und haben Schwierigkeiten im sozialen Umgang. Zudem wird davon ausgegangen, dass Kinder mit ECC Zahnentwicklungsstörungen, Durchbruchprobleme und ein hohes Kariesrisiko beim bleibenden Gebiss entwickeln. Bei Anzeichen von Glattflächenkaries bei Kindern unter drei Jahren wird von einer schweren ECC (S-ECC oder ECC Typ III) gesprochen.

Trotz verschiedener Initiativen zur Verbesserung der Mundgesundheit im Kindesalter sinkt die Karieshäufigkeit im Milchgebiss nur in recht geringem Maße und ECC ist zunehmend typisch für Bevölkerungsgruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status (SÖS). Da Zahnkaries als nicht-übertragbare Krankheit gilt, sollte ein Paradigmenwechsel beim Kariesmanagement stattfinden und eine gemeinsame Gesundheitsvision unter Einbeziehung von Einrichtungen des Gesundheitssektors sowie von Einrichtungen außerhalb des Gesundheitssektors entwickelt werden. Die Globale Kariesinitiative (Global Caries Initiative) rückt Kleinkinder in den Mittelpunkt und macht die Mundgesundheit zum Thema für Mutter-Kind-Gesundheitsprogramme. Dabei kommen neue sektorübergreifende und kollaborative Methoden zum Einsatz, und die Rolle der Zahnärzte wird gestärkt, um ECC bei Kindern unter 3 Jahren zu eliminieren. Neue Präventionsansätze sollten sich auf Schwangere und Mütter von Kleinkindern konzentrieren. Das erfordert die Einbeziehung von Gynäkologen, Hebammen, Kinderärzten und Schwestern sowie geschulten Nicht-Fachleuten, deren gemeinsame Aufgabe es ist, das Gesundheitsbewusstsein zu verbessern und bei Ernährungsfragen zu beraten.

Diese sektorübergreifende Herangehensweise kommt bei einem regionalen Programm im deutschen Bundesland Thüringen zum Einsatz. Beteiligt sind die Poliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde am Universitätsklinikum Jena und der Erstbesuchsdienst für Neugeborene des Jugendamts der Stadt Jena. Ziel dieser Zusammenarbeit war es, Zugang zu allen Familien zu bekommen und so zur Verbesserung der Gesundheit im Allgemeinen sowie der Mundgesundheit im Speziellen bei Kleinkindern beizutragen. In diesem Programm kommen verschiedene evidenzbasierte Strategien für die ECC-Prävention zum Einsatz, wie die Beratung der Mütter, das tägliche Zähneputzen mit fluoridierter Zahnpasta, die Etablierung eines sogenannten „Dental Home“ (ein Familienzahnarzt, den man regelmäßig aufsucht) spätestens bis zum Alter von zwölf Monaten, die Eingliederung der Kinder in ein kariesrisiko-orientiertes Wiederbestellungssystem mit fortlaufender zahnärztlicher Versorgung und die Anwendung von Fluoridlack. Die frühzeitige Erkennung des Kariesrisikos eines Kindes und die Umsetzung geeigneter Präventionsmaßnahmen tragen wirkungsvoll dazu bei, den Ausbruch von Karies zu vermeiden. 

Das Präventionsprojekt (PP)

Seit 2009 besuchen qualifizierte Mitarbeiter (Hebammen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern) des Jenaer Erstbesuchsdiensts alle Eltern von Neugeborenen (etwa Tausend Kinder pro Jahr) zwischen der ersten und vierten Lebenswoche. Die Mütter werden zu den Themenallgemeine Gesundheit und Mundgesundheit beraten. Sobald die ersten Zähne durchbrechen, sollen diese einmal täglich nach dem Abendessen mit einer altersgerechten Zahnbürste und einer Schmierschicht fluoridierter Zahnpasta (500 ppm F) geputzt werden. Ab dem zweiten Geburtstag solle dazu übergegangen werden, die Zähne morgens und abends nach den Mahlzeiten mit einer erbsengroßen Menge fluoridierter Zahnpasta zu putzen. Die Eltern sollen ein „Dental Home“ mit regelmäßiger Zahnversorgung aufbauen. Jede Familie erhielt einen Informationsfolder in ihrer Muttersprache sowie eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta und einen Schnuller für das Kind.
Die Familien wurden vom Erstbesuchsdienst eingeladen, im ersten Lebensjahr des Babys in der Poliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde eine Zahnuntersuchung durchführen zu lassen. Familien, die dieser Einladung folgten, wurden in das PP aufgenommen und ihre Kinder bis zum Alter von drei bis vier Jahren laufend kariesrisiko-orientiert zahnärztlich betreut. Familien, die dieser Einladung nicht folgten, wurden in die Kontrollgruppe (KG) eingegliedert. Diese Gruppeneinteilung wurde auch für die medizinische Studie verwendet.
Zur Kategorisierung des Kariesrisikos der Kinder wurde das CAT (Caries-risk Assessment Tool) für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche der American Academy of Pediatric Dentistry (AAPD) herangezogen und bei jedem Zahnarzttermin wurde das Risiko neu bewertet. Kinder, die erste Kariesläsionen (d1-Läsionen), Kavitäten und/oder Entwicklungsstörungen beim Zahnschmelz aufwiesen, wurden in die Karieshochrisikogruppe aufgenommen. Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko wurden alle drei Monate wiederbestellt, während Kinder mit niedrigem oder moderatem Kariesrisiko alle sechs Monate wiedervorgestellt werden sollten. Bei den Hochrisikokindern wurde zwei Mal jährlich Fluoridlack (Fluoridin N5, VOCO GmbH, Cuxhaven) aufgetragen. 

Die Zahnuntersuchung

2013 wurden alle Eltern von Kindern, die zwischen Juli 2009 und Oktober 2010 in Jena geboren wurden (Gesamtzahl n = 1162, PP n = 512, KG = 650), vom Erstbesuchsdienst zu einer abschließenden Zahnuntersuchung in der Poliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde eingeladen.
Der Befall mit Karies wurde anhand des DMFS-Index (d1-Stufe) ermittelt und gemäß den Standardkriterien der WHO kategorisiert. Es wurden keine Röntgenaufnahmen gemacht. Alle Aufzeichnungen wurden vom selben kalibrierten Zahnarzt vorgenommen. 
Untersucht wurden 755 Kinder (PP: n = 377, KG: n = 378) mit einem Durchschnittsalter von 3,26 ± 0,51 Jahren (49,0 % weiblich; 5,3 % Migrationshintergrund). Bei 26,8 % (n = 202) der Kinder lag ECC vor, und bei 16,3 % (n = 123) wurde S-ECC festgestellt. Bei den Kindern, die am PP teilgenommen hatten, trat Karies deutlich weniger häufig (1,3 %) auf als bei den Kindern in der KG (17,2 %). Die Kariesprävalenz (d1-Stufe) lag bei 15,6 % im PP im Vergleich zu 37,8 % in der KG. In der KG wurde keine Karies behandelt. Die durchschnittliche Zahl der Zahnarztbesuche lag im PP bei 4,5 ± 2,3 und in der KG bei 0,3 ± 0,4.

Die Ergebnisse

Die Studie hat gezeigt, dass Dreijährige, die von Geburt an am PP mit vorausschauender Beratung und fortlaufender zahnärztlicher Betreuung teilgenommen hatten, eine deutlich bessere Mundgesundheit als gleichaltrige Kinder aufwiesen, die nicht am Programm teilnahmen. Die Hauptergebnisse der Studie waren, dass Kinder mit sichtbarer Plaque auf den Zähnen, Kinder mit familiärer Kariesvorbelastung und Kinder, die keine Vitamin-D-Zusätze erhielten, im Vergleich zu anderen Kindern ein höheres Risiko für eine Kariesentwicklung hatten und dass eine regelmäßige Zahnpflege eine Schutzwirkung gegen Karies gezeigt hat.

Grundlage dieser Studie waren Daten aus einer regionalen Geburtskohortenstudie in Deutschland. Die Zusammenarbeit zwischen der Poliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde als Einrichtung des Gesundheitssektors und dem Erstbesuchsdienst des Jugendamtes als nicht zum Gesundheitssektor gehörender Einrichtung stellte einen neuen sektorübergreifenden Ansatz zur ECC-Prävention dar. Die Beratung durch den Erstbesuchsdienst kurz nach der Geburt war der erste Schritt, die Eltern für gesunde Ernährung, gute Mundhygiene und regelmäßige Kinderarzt- und Zahnarztbesuche zu sensibilisieren. Die Studie hat gezeigt, dass über die Hälfte der Nichtteilnehmer dazu motiviert werden konnte, nach der Beratung durch den Erstbesuchsdienst einen Termin bei ihrem Familienzahnarzt wahrzunehmen. Ein weiterer großer Vorteil des sektorübergreifenden Ansatzes war der Zugang zu allen Familien – unabhängig vom SÖS oder ihrer Herkunft.

Trotz der beschriebenen Vorteile hat die Studie aber auch gezeigt, dass für einen nachhaltigen Einfluss auf die Mundgesundheit die Beratung durch den Erstbesuchsdienst mit konstanter vorausschauender Beratung und kontinuierlicher Zahnpflege fortgesetzt werden muss. Aufklärende Informationen allein sind für die Änderung von Verhaltensweisen relativ unwirksam. Diese Studie hat gezeigt, dass bei Dreijährigen mit regelmäßiger Zahnpflege weniger Karies auftrat. Eltern müssen für ECC und deren Risikofaktoren sensibilisiert werden. Die Aufnahme der Kinder in ein kariesrisiko-orientiertes Wiederbestellungssystem ist hilfreich, um Eltern die Wichtigkeit der Mundgesundheitspflege und des regelmäßigen Zähneputzens nahezubringen. In dieser Studie war sichtbare Plaque auf Zähnen in hohem Maße mit dem Auftreten von Karies bei den Kindern verbunden. Für die Kariesprävention bei Kindern ist es demzufolge essenziell, die Zähne täglich mit einer fluoridierten Zahnpasta zu putzen. Ein weiterer Vorteil unseres Ansatzes bestand darin, dass der Zahnarzt in der Lage war, erste Anzeichen von Karies zu erkennen und dem individuellen Kariesrisiko entsprechend einzugreifen, um eine Kariesprogression zu verhindern. Kinder mit einer hohen Karieswahrscheinlichkeit wurden alle drei Monate wiederbestellt; ihre Zähne wurden halbjährlich mit einem Fluoridlack behandelt. Es konnte gezeigt werden, dass die Anwendung von Fluoridlack eine schützende Wirkung vor Karies hatte. Die Wirksamkeit des Fluoridlacks wurde in wissenschaftlichen Studien zuverlässig nachgewiesen, und verschiedene Gesundheitsprogramme beinhalten die Fluoridlackanwendung bereits in den ersten drei Lebensjahren. 

Ein weiteres herausragendes Ergebnis dieser Studie war, dass die Nichtgabe von Vitamin-D-Zusätzen als Risikofaktor für die Entwicklung von Karies ausgemacht werden konnte. Bisher wurde die Wirkung von Vitamin D auf die Entwicklung von Karies nur in wenigen Studien untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass Vitamin D aufgrund seiner Wirkung auf den Calciumstoffwechsel und auf die Kalzifikation der Zähne das Risiko einer Zahnkaries zu senken scheint. Die Auswertung hat gezeigt, dass das PP ein effektiver sektorübergreifender Ansatz zur Verbesserung der Mundgesundheit bei Vorschulkindern war. Die Zusammenarbeit mit dem Erstbesuchsdienst als nicht zum Gesundheitssektor gehörender Einrichtung ist ein vielversprechender neuer Ansatz in Deutschland und trägt dazu bei, Kindern einen gesunden Start zu ermöglichen und gesundheitliche Ungleichheiten auszugleichen.

Das Programm wurde letztes Jahr für seine Arbeit mit dem Wrigley Prophylaxe Preis ausgezeichnet.

Danksagungen: 

Wir danken dem Erstbesuchsdienst des Jugendamts Jena für die hervorragende Zusammenarbeit. Die Studie wurde finanziell und materiell unterstützt von der MAM Baby AG, Wollerau (Schweiz), der VOCO GmbH, Cuxhaven (Deutschland), der MAM Babyartikel GmbH, Wien (Österreich), Procter & Gamble International Operations S.A., Petit-Lancy (Schweiz), der Wrigley GmbH, München (Deutschland), und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK).

Dr. Yvonne Wagner

Kinderzahnärztin

Dr. Yvonne Wagner ist eine erfahrene deutsche Zahnärztin. Sie hat bereits in Fachzeitschriften weltweit publiziert. Dr. Wagner leitet Schulungen für Hebammen, Zahnärzte und Ärzte sowie Kurse für Eltern.